
Anschobers traurige Bilanz: "Landespolitiker weinten bei mir am Telefon"
Fünf Monate ist es her, da trat Rudolf Anschober vor die Kameras. Und von seinem Amt zurück. Er konnte nicht mehr Gesundheitsminister der Republik sein. Eine Aufgabe, die seine eigene Gesundheit zerstört hatte. In einem Interview zieht er nun Bilanz über seinen Kampf gegen die Corona-Pandemie.

Gesundheitlich geht es Anschober mittlerweile besser. Der Tinnitus ist am Abklingen, der Blutdruck in Ordnung. Im Herbst des Jahres 2020 – am Höhepunkt der Corona -Pandemie – sah die Welt des grünen Politikers aber noch ganz anders aus.
“Die Zahlen begannen plötzlich rund um den 22. Oktober sehr stark zu steigen. Die Akzeptanz für Maßnahmen in der Bevölkerung hatte über den Sommer stark abgenommen, immer mehr Skeptiker, zum Teil sogar aus der Wissenschaft, sorgten für Verunsicherung. Zugleich stieg die Aggression, die ersten Morddrohungen kamen”, erinnert sich Anschober.
Dann kamen die Morddrohungen

Im Interview mit “Zeit Online” fährt er fort: “Ich dachte zwar nicht, dass etwas passiert, aber ich habe einen politischen Stil, der auf Kontakt mit Leuten angewiesen ist. Fahrten in der U-Bahn waren wie eine Sprechstunde, ein Energiespender. Davon war ich plötzlich abgeschnitten, wie unter einem Glassturz. Um die zweite Welle doch noch zu schaffen und die notwendigen Maßnahmen durchzusetzen, habe ich mein tägliches Arbeitspensum noch einmal massiv gesteigert. Die letzten freien Fenster zur Erholung wurden gestrichen.”
Nein sagen am Fließband

Dann kann er sich einen Seitenhieb auf seinen ehemaligen Koalitionspartner Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) nicht verkneifen. “Dann kam der Irrsinn der dritten Welle. Das Bundeskanzleramt war zum Teil nicht mehr so unterstützend, die Landeshauptleute haben immer stärker Druck gemacht, zu öffnen. Ich musste in Sitzungsmarathons njet, njet, njet wie am Fließband antworten, die notwendigen Maßnahmen durchzusetzen wurde zur Mammutaufgabe, weil es eben keinen Konsens und keine breite Unterstützung mehr gab. Es ist irrsinnig an die Substanz gegangen, dabei oft alleine zu sein. In dieser Phase habe ich den Wiener Bürgermeister Michael Ludwig schätzen gelernt, der auf Argumente der Experten eingegangen ist.”
Weinende Politiker am Telefon
Gefragt, ob er sein damaliges Vorhaben, gesund zu leben und Sport zu machen, einhalten konnte, antwortet der Ex-Minister mit dramatischen Worten: “Jeder Tag hat mit den Zahlen begonnen, die stiegen und stiegen. Wir wussten nicht mehr, wie man in den Alten- und Pflegeheimen gegensteuern könnte. Mich haben Landespolitiker angerufen, die geweint haben, weil sie nicht mehr wussten, wie man die Todesfälle verhindert. Der Kopf sagt: Du musst jetzt trotzdem auf dich schauen und laufen gehen oder dir für Qigong Zeit nehmen. Aber die Abwägung verschiebt sich. Weil es nicht mehr um herkömmliche Politik geht, sondern tatsächlich um Menschenleben.”
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